Anna Kontriner – Wir sind ausgesandt

m apostolischen Schreiben Evangelii gaudium gibt Papst Franziskus dem Gedanken der Mission – der über Jahrhunderte hinweg als Deckmantel kolonialistischer und imperialistischer Untaten herhalten hat müssen und damit bis heute ungeheuerliches Leid verursacht – eine bemerkenswerte Wendung. Unter dem Kapitel „Die missionarische Umgestaltung der Kirche“ heißt es: „Jeder Christ [und wohl auch jede* Christ*in] und jede Gemeinschaft soll unterscheiden, welches der Weg ist, den der Herr verlangt, doch alle sind wir aufgefordert, diesen Ruf anzunehmen: hinauszugehen aus der eigenen Bequemlichkeit und den Mut zu haben, alle Randgebiete zu erreichen, die das Licht des Evangeliums brauchen.“

Mission heißt nicht, wie es allzu oft missverstanden wird: „Hauptsache, alle getauft“, Mission heißt – wörtlich (vom lateinischen „missio“, „Sendung“ oder auch „Entlassung“) – ausgesandt zu sein. Wohin? Zu welchem Zweck? Das zu entscheiden, so heißt es im zitierten Satz treffend, ist die Aufgabe jedes Christen*jeder Christin. Es gibt keine allgemeingültige Antwort, die Antwort ergibt sich aus der jeweiligen Situation und aus dem je eigenen Vermögen. Christ*in sein heißt, an die Ränder zu gehen. Die eigene Komfortzone zu verlassen, Mut zu haben. Dorthin zu gehen, wo sich andere abwenden, wo es unbequem oder vielleicht auch schmerzhaft ist.

Unsere Gesellschaft drängt viele Menschen in Randzonen, in denen sie, ihrer Würde beraubt und mit Hoffnung, auszuharren haben: Menschen, die aus Krieg, Verfolgung und Elend fliehen und in Lager gesperrt werden, Menschen, die Arbeit und Wohnung verloren haben und auch aus dem öffentlichen Raum immer öfter verdrängt werden, Menschen, die auf Pflege und Hilfe im Alltag angewiesen sind und für die das System aus ökonomischen Gründen kaum das Überlebensnotwendige vorsieht.

Als Christ*innen sind wir aufgefordert, hinzuschauen und zu handeln, wenn jemand an den Rand gedrängt wird. Doch nicht nur das. Menschen, so Franziskus, werden nicht nur an den Rand gedrängt, sondern direkt ausgeschlossen, und die derart „Ausgeschlossenen sind nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern Müll, ‚Abfall‘.“ In dieser Härte schreibt es der Papst in seinem apostolischen Schreiben, und nur allzu gerne würden wir diese traurige Wahrheit über unsere Gesellschaft, die Menschen auf der Flucht nicht nur in Lager sperrt, sondern auch im Meer ertrinken lässt, wohnungs- und arbeitslose Menschen mittels Absperrgittern vor U-Bahnhöfen und Parkbänken, die zu klein sind zum Liegen, gezielt vertreibt und pflegebedürftige Menschen oft qualvoller, einsamer und früher dem Tod überlässt als nötig, verdrängen.

Doch es ist unsere Aufgabe, unsere „Mission“, aufzumerken und gerade da hinzuschauen. Das sind keine Einzelfälle, das ist eine Folge unserer Wirtschaft und unserer Politik. Oder, mit den Worten von Papst Franziskus: „In diesem System, das dazu neigt, alles aufzusaugen, um den Nutzen zu steigern, ist alles Schwache wie die Umwelt wehrlos gegenüber den Interessen des vergötterten Marktes, die zur absoluten Regel werden.“
An den Rand zu gehen kann heißen, Not zu lindern. Es kann auch heißen, dorthin zu gehen, wo Menschen ausgebeutet und ausgeschlossen werden oder, etwa durch massive Umweltzerstörung, ihrer Lebensgrundlage beraubt werden, und sich dem in den Weg zu stellen.

Wir sind ausgesandt. Wohin? Wozu? Das müssen wir, allein oder in Gemeinschaft, alle selbst entscheiden. Nehmen wir die Herausforderung unserer Sendung an, seien wir mutig. Und, noch einmal Evangelii gaudium: „Seien wir realistisch, doch ohne die Heiterkeit, den Wagemut und die hoffnungsvolle Hingabe zu verlieren! Lassen wir uns die missionarische Kraft [- die Kraft des Ausgesandt-Seins -] nicht nehmen!“   


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Anna Kontriner lebt in Wien. Sie hat Philosophie und Katholische Theologie studiert und arbeitet als selbstständige Lektorin. Außerdem ist sie bei Extinction Rebellion aktiv und in die mittlerweile mehr als drei Monate andauernde Besetzung mehrer Wiener Autobahnbaustellen involviert.